Liebe Leserinnen, liebe Leser
Etwas unbehaglich ist mir schon zumute, das Editorial zu einem so verruchten Thema zu schreiben. Aber warum denn? Gehört es sich etwa nicht? Bin ich ein prüder Mensch? Darf man als kirchliche Absenderin überhaupt ein Heft zum Thema Erotik herausgeben? Sie sehen: Wir sind mitten im komplexen Universum von Weite, Grenzen, Nähe, Distanz und vor allem ziemlich viel Unsicherheit – gerade in der Kirche. Gleichzeitig bin ich sehr stolz darauf, dass wir in diesem Heft verstehen wollen, was eine sexpositive Haltung ausmacht oder was Sinnlichkeit in Organisationen zu suchen hat.
Es ist höchste Eisenbahn, dass wir uns mutig in das zart Rohe und mehrdeutig Offenkundige der Erotik hineinbegeben. Los geht’s!
Barbara Schlunegger, Nachwuchsförderung Theologie
Warum stellt eine Kirchgemeinde Aktfotos von Senior:innen aus? Was auf den ersten Blick unglaublich erscheint, erweist sich als künstlerisch wertvolle und ästhetisch anspruchsvolle Aktion. Und: höchst vergnüglich für alle Beteiligten.
Von Holger Pyka
«Herr Pastor!» Frau W. strahlt, als sie an ihrem Rollator aus dem kleinen dunklen Raum herausgefahren kommt. «Herr Pastor, ich bin schön», zwitschert sie, dann senkt sie verschwörerisch die Stimme: «Ich bin sogar sexy!» Halb erschrocken blickt sie sich um (immerhin sind wir ja in der Kirche, irgendwie), schlägt die Hand vor den Mund und kichert. Ich trete in den kleinen dunklen Raum, in dem sich sonst Malgruppen und Nähkreise treffen. Für heute ist er in ein provisorisches Fotostudio verwandelt worden. Und Mitglieder unseres Seniorenkreises wagen sich vor die Kamera einer Fotografenmeisterin, die sie mit den Worten begrüsst: «Es gibt keine hässlichen Menschen, es gibt nur schlechte Fotografen!» «Wie läuft’s?», frage ich die Fotografin. «Ich habe noch nie mit so vielen tollen Menschen auf einem Haufen zu tun gehabt», lächelt sie.
Im Sommer 2018 haben wir das Fotostudio in der Gemeinde aufgebaut, als krönenden Abschluss einer mehrwöchigen Veranstaltungsreihe unter dem Titel «Wunderbar gemacht?», bei dem sich Senior:innen mit dem Thema «Schönheit» beschäftigten. Wir haben uns und vor allem sie gefragt: Wächst sich das raus, diese Gottebenbildlichkeit, von der wir immer reden? Wenn nein, wie kann es gelingen, auch im Alter ein positives Körpergefühl zu behalten oder zu entwickeln, und was hat das mit unserem Glauben zu tun? Über die Wochen näherten wir uns dem Thema an. Zuerst mit Werbevideos und -plakaten aus den Jahrzehnten, die die Teilnehmenden noch erlebt haben, aber auch mit Ölgemälden, Seidenmalereien und Toninschriften aus vergangenen Jahrhunderten. Wir schüttelten die Köpfe über schwarzgemalte Zähne in Japan und abgebundene Füsse in China und stellten fest: Was Menschen attraktiv, erotisch und schön finden, das ändert sich immer wieder. Dann näherten die Teilnehmenden sich ihren eigenen Körpern und deren Geschichten an. «Guckt euch eure Hände an und erzählt euch gegenseitig, welche sichtbaren Spuren das Leben dort hinterlassen hat.» Diese Gesprächsanregung reichte, um den Nachmittag zu füllen. Zu erstaunlich vielen Narben an den Fingern gab es Geschichten zu erzählen, und längst nicht jede davon war traurig oder dramatisch. «Ich habe mich immer über meine Hände geärgert», murmelte eine am Ende vor sich hin und streckte nachdenklich die Hand aus, «aber eigentlich erinnern sie mich nur daran, dass ich ein reiches und aufregendes Leben gehabt habe.»
«Wie, so ganz nackt?» Herr K. reisst die Augen auf. «Das entscheiden Sie selbst», beruhige ich ihn. «Und nicht so komplett, zumindest nicht von vorne.» «Schämst du dich etwa?», fragt ihn seine Frau belustigt. Er überlegt einen Moment, dann grinst er: «Nein, aber ich will nicht, dass die anderen Männer sich schlecht fühlen.» Einen Augenblick halten die Anwesenden den Atem an, dann prustet der ganze Seniorenkreis auf einmal los.
Die Idee, Fotos von alten Körpern auszustellen, war schon früher einmal dagewesen, inspiriert von einer Ausstellung in der damaligen Fachstelle Zweite Lebenshälfte in Hanau. Beeindruckende Schwarz-Weiss-Aufnahmen, die sie so in Szene setzen, wie es unsere Medien normalerweise für jüngere Körper reservieren. Erst in langen Diskussionen mit den Mitgliedern des Seniorenkreises spannen wir die Idee weiter und landeten am Ende bei künstlerisch wertvollen, ästhetisch anspruchsvollen Bildern von ganzen Menschen. Es folgten auch Diskussionen in kirchlichen Gremien, weil uns klar war: Wir machen das nur, wenn alle Verantwortlichen dahinterstehen. Und wir können das auch nur machen, wenn nicht zu viele Bedenken die Arbeit erschweren. «Keinen Schweinkram!», wie Frau S. forderte. «Aber auch nicht zu langweilig», so ihre Freundin Frau P. dazu.
«Komm, ich zeig dir mal was!» Mit geheimnisvollem Blick winkt mich die Fotografin zum Computer in ihrem Atelier. Ein Ehepaar, beide über 80, sind gemeinsam zu ihr gekommen und haben ein Paarshooting für die Ausstellung gemacht. Als wir ihre Bilder durchblättern, bekomme ich etwas ins Auge, und vielleicht muss ich mir sogar die Nase putzen. Die Aufnahmen berühren mich sehr. «Ich habe auch geheult», bekennt die Fotografin, und gemeinsam überlegen wir, was uns an diesen Bildern so bewegt. Und stellen fest: Der Blick auf unsere eigenen Körper hat sich im Laufe dieses Projekts verändert, ist gnädiger geworden, freundlicher.
Gottes Spuren suchen
«Warum macht ihr das als Gemeinde?» Das war vielleicht die häufigste Frage, die uns in dieser Zeit gestellt wurde. Und die Antwort, wie sie in der Ansprache zur Ausstellungseröffnung formuliert war, lautete: Weil es halt das ist, was wir als Kirche so machen. Wir suchen und finden Schönheit dort, wo niemand sie vermutet. Wir suchen Gottes Spuren in der Welt und finden sie in den Gesichtern und Geschichten der Menschen. Wir blicken in ein von Sorgenfalten durchfurchtes Gesicht und sagen leise: «Danke, Gott, dass Du diesen Menschen bis hierher getragen hast.» Wir erheben unsere Stimme, um der Schlange zu widersprechen, wenn sie redegewandt und eindringlich und unheimlich überzeugend sagt: Du bist nicht wunderbar. Du bist zu alt, zu dick, zu dünn, zu dunkel, zu langsam, zu gezeichnet vom Leben, zu klein, zu groß, zu anders, zu männlich, zu weiblich oder zu wenig von beidem.
Sechs Jahre ist es jetzt her. Einige der Teilnehmenden habe ich seitdem beerdigt, darunter auch Frau W. Sie hat, wie einige andere, in ihrem Testament festgelegt: Bei der Trauerfeier soll ihr Aktbild in der Kapelle zu sehen sein. Interessant war auch, dass sich im Nachgang zu dieser Aktion die Kommunikation in der Gemeinde verändert hat. In seelsorglichen Gesprächen war die körperliche Ebene plötzlich präsenter, Menschen erzählten offener von Sehnsüchten und von Scham, von Operationen und auch von Sexualität – auch von schlimmen Erfahrungen. Alle aktuellen Diskussionen um die Schuld der Kirche an der Ermöglichung und Vertuschung sexualisierter Gewalt erinnern mich an etwas, das wir damals im Sommer 2018 gelernt haben: Wenn Menschen trauen, sich zu zeigen, dann verändert das etwas.
Pfarrer Dr. Holger Pyka ist Dozent für Homiletik, Liturgik, Kasualien und Gemeindeentwicklung am Seminar für pastorale Ausbildung in Wuppertal. Das im Text beschriebene Projekt wurde in einer Wuppertaler Kirchge-
meinde realisiert. holger.pyka@ekir.de
Obwohl Sexualität in der heutigen Welt omnipräsent ist, ist sie noch längst nicht enttabuisiert, sagt Angie Walti. Sie beschäftigt sich akademisch, künstlerisch, pädagogisch, psychologisch und politisch mit Sexualität. Wo mehr Auseinandersetzung angezeigt wäre, erklärt sie im Interview.
Von Esther Derendinger
Du beschäftigst dich beruflich seit über 10 Jahren mit Sexualität. Was treibt dich an?
Angie Walti (AW): Sexualität ist ein spannendes und facettenreiches Thema und überall in unserem Leben präsent. Es kann über so viele Perspektiven beleuchtet und erforscht werden. Das fasziniert mich immer wieder neu.
Wie steht es um die Erotik der Menschen in der heutigen übersexualisierten Welt?
AW: Hier muss man vielleicht zuerst definieren, was Erotik ist. Oft ist das Bild da: Erotik ist gut, die schöne Kunst; Pornografie ist schlecht. Ob wir übersexualisiert sind, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Eine sexualisierte Welt ist kein neues Phänomen. Beispielsweise weiss man aus der Römerzeit, dass die Leute damals mit sehr vielen sexualisierten Abbildern gelebt haben. Es war ein integraler Teil ihres Alltags. So wurden beispielsweise Erotikszenen und Bilder von Geschlechtsteilen auf Vasen und anderen Alltagsgegenständen abgebildet. Ja, wir leben in einer sexualisierten Welt, diese ist aber auch sehr oberflächlich. Vertiefte Auseinandersetzung geschieht nur am Rande.
Ist Sexualität in unserer Gesellschaft nicht längst enttabuisiert?
AW: Über Sexualität und die dazugehörenden Gefühle und Wünsche wird kaum geredet. Das, obwohl man meint, Sexualität sei kein Tabu mehr. Wir haben zwar eine sexualisierte Sprache, sexualisierte Bilder, aber konkret über die eigenen sexuellen Bedürfnisse zu sprechen, ist noch längst nicht selbstverständlich. Zudem muss ich leider nach 10 Berufsjahren sagen, dass mit Menschen, die sich beruflich mit Sexualität beschäftigen, teilweise anders umgegangen wird als beispielsweise mit einer Psychotherapeutin. So gibt es Leute, die mit mir nicht in Beziehung gesetzt werden wollen, weil sie sich um ihren Ruf sorgen. Solche Erfahrungen zeigen meiner Meinung nach, dass Sexualität noch längst nicht enttabuisiert ist.
Mit welchen Anliegen kommen Menschen in eine Beratung?
AW: Mein Publikum ist vielfältig. Eine Grundfrage treibt jedoch viele um: Bin ich normal? Sind meine Bedürfnisse normal? Oft geht es darum, dass ich meinen Klient:innen sage, dass sie in Ordnung sind mit ihren Wünschen und Bedürfnissen und an ihrem Thema gearbeitet werden kann, wenn sie das wollen. Die Message: Du bist normal und nichts ist kaputt, hilft ihnen schon sehr, auch wenn es körperlich mal nicht funktioniert oder es in der Beziehung schwierig ist.
Wie sieht eine erfüllte Sexualität aus?
AW: Ich kann nicht definieren, was eine erfüllende Sexualität ist. Das kann jede Person nur sich selbst beantworten. Das ist wohl der springende Punkt. Es wird viel über Sex geredet. Medial wird man mit guten Ratschlägen für ein besseres Sexleben überhäuft. Ich bezweifle, dass man dadurch zu einer erfüllten Sexualität kommt. Denn diese beginnt bei einem selbst. Ich kann mich fragen: Auf was habe ich Lust? Was weckt meine Neugierde? Wo spüre ich Unzufriedenheit? Dann beginnt die Exploration. Eine erfüllte Sexualität kann auch sein, wenn man für sich klar ist, dass einem Sex nicht wahnsinnig stark interessiert. Es gibt so viele Möglichkeiten.
Es kommen auch Menschen in deine Beratung, die von religiösen Glaubenssätzen geprägt sind. Wann sind diese Hürde und wann Ressource?
AW: Pauschal kann ich das nicht beantworten, da ja meist Menschen mit einem Defizit zu mir in die Beratung kommen. Klient:innen mit christlichem Hintergrund stammen meist aus konservativen Gemeinden. Da zeigt sich schon eine gewisse «Körperfeindlichkeit». Daraus können auch Funktionsstörungen entstehen. Als Ressource kann das «Commitment» für die Beziehung betrachtet werden. Man will zusammenbleiben und arbeitet daran, dass es so bleibt – wobei es ja nicht unbedingt bis zum bitteren Ende sein muss.
Der Begriff «sexpositiv» ist auf dem Vormarsch. Wie können wir uns sexpositive Menschen vorstellen? Wer und wie sind die andern?
AW: In bestimmten Communitys ist der Begriff in aller Munde, gesellschaftlich aber noch nicht verankert. Sexpositivität ist eine bewusste Auseinandersetzung mit Sexualität. Es heisst für mich, dass ich Körper und Praktiken als positiv bewerte, solange sexuelle Handlungen einvernehmlich sind und unter Erwachsenen stattfinden. Dazu gehört, dass ich nicht von Schamlippen rede, sondern von Vulvalippen, oder ich Kink und Fetisch nicht automatisch pathologisiere, sondern als positiv betrachte und als Ressource bewerte. Sexpositiven Menschen gegenüber stehen Personen, die diese Haltung ablehnen und als abnormal abtun. Wer sich als sexpositiv bezeichnet, drückt damit auch eine Haltung aus. Wenn ich dieses «Label» habe, können sich die Leute etwas darunter vorstellen, wie ich arbeite.
Besonders in Städten haben sich im letzten Jahrzehnt zahlreiche sexpositive Initiativen entwickelt, auch abseits der heteronormativen Welt. Wie nimmst du diese Entwicklung wahr?
AW: Es gibt eine grosse Nachfrage nach solchen Angeboten. Viele Arbeitskolleg:innen bieten Workshops an, insbesondere auch für Frauen. Frauen wollen sich mit ihrer Sexualität auseinandersetzen, hinschauen. Bei den Männern steigt die Teilnahme langsamer. Bei ihnen spüre ich eine gewisse Verunsicherung. Die Männer merken zwar, dass sich etwas verändert, aber der Druck zu handeln fehlt noch. Hier geht es aus meiner Sicht um die Privilegien, die sie noch immer für sich beanspruchen. Sie haben nicht die Dringlichkeit zu reflektieren, wie das Frauen oder queere Menschen haben. Das rührt daher, dass unsere Gesellschaft patriarchal geprägt ist. Warum soll man sich mit seinen Privilegien auseinandersetzten, wenn man nicht merkt, dass man welche hat? Bei jungen Männern ändert sich das nun langsam.
Du setzt dich auch künstlerisch mit Sexualität auseinander, beispielsweise hast du einige Jahre die Porny Days kuratiert. Warum ist dieses Nischen-Filmfestival wichtig? Und wer geht da hin?
AW: Das Filmfestival ist eine Möglichkeit, in einem niederschwelligen Rahmen mit anderen einen Porno zu schauen und auch neue und andere Sex-Bilder zu sehen. Ich kann nur empfehlen, einmal dahinzugehen. Auch hier geht es um Enttabuisierung. Zudem ist es spannend zu sehen, wie Menschen über das Gesehene diskutieren. Und es stösst die Selbstreflexion an. Zugegeben, es braucht ein bisschen Mut, hinzugehen, aber es lohnt sich. Das Publikum der Porny Days ist heterogener, als man denkt.
Alternative Beziehungsformen werden populärer. Kann das funktionieren?
AW: Mir stellt sich weniger die Frage, ob polyamore, monogame oder offene Beziehungen funktionieren oder nicht. Es bietet vielmehr die Chance, darüber zu reflektieren, welche Art von Beziehung ich führen möchte. Gerade junge Menschen interessiert das Thema stark. Ich kenne polyamore und monogame Beziehungen, die perfekt funktionieren, und auch solche, die es nicht tun. Die Frage nach der richtigen Beziehungsform kann auch überfordern, und es ist völlig okay, wenn man einen Normweg gehen möchte.
Man hört oft, dass Jugendliche durch Pornokonsum ein falsches Bild von Sexualität bekommen. Kannst du das bestätigen?
AW: Jugendliche konsumieren Pornos. Das ist erlaubt, aber sie dürfen sie, bis sie 16 Jahre alt sind, einander nicht zeigen. Aus meiner Sicht können die meisten Jugendlichen sehr gut unterscheiden, was Film und was Realität ist. In dieser Debatte sehe ich das Problem eher bei den Erwachsenen. Meist sind sie damit überfordert, weil sie auch die eigene Haltung dazu nicht geklärt haben. Mir scheint wichtiger als Pornos zu verteufeln, dass Jugendliche wissen, dass sie mit Erwachsenen über Pornografie reden dürfen und Ansprechpersonen finden, mit denen sie über Gesehenes sprechen können.
Du bist als Sexualpädagogin auch in Schulen unterwegs. Hat sich diese Arbeit in den letzten Jahren verändert?
AW: Ich erlebe ein grosses Spannungsfeld zwischen Kindern und Jugendlichen, die ihren Körper, ihre Sexualität entdecken und gleichzeitig in einer Welt aufwachsen, die voller sexueller Bilder aus der Erwachsenenwelt ist und in der viel über Sex geredet wird. Aber eigentlich sind die Fragen immer noch die gleichen wie in meiner Jugend. Sie möchten einfach wissen, wie Sex funktioniert.
Angie Walti ist Sexualberaterin und Sexualpädagogin mit eigener Praxis in Zürich. Daneben arbeitet sie auf einer Fachstelle für Sexuelle Gesundheit. In Schulen ist sie zudem als Sexualpädagogin unterwegs. Sie absolvierte den Masterstudiengang in Contemporary Art Theory in London mit der Spezialisierung in Post-Pornographie, Queer Theorie, Gender Studies und Feminismus und bildete sich u. a. weiter in Körperzentrierter Psychologischer Beratung und Systemische Paarberatung. www.angiewalti.ch
Erotik hat in Organisationen nichts zu suchen, meint der Gruppen- und Organisationsdynamiker Olaf Geramanis. Das ist aber gar nicht so einfach – speziell im kirchlichen und sozialen Berufsfeld. Ein Gespräch über die Grenzen zwischen Intimität und Professionalität.
Von Thomas Schaufelberger
Beginnen wir mit dem Phänomen der erotischen Anziehung zwischen Menschen. Wird es in der Theorie der Gruppendynamik behandelt? Welche Rolle spielt es in Organisationen?
Olaf Geramanis (OG): Zunächst ist es beim Thema Erotik sehr wichtig, zwischen Gruppen und Organisationen zu unterscheiden. Eine Gruppe definiert sich durch die Personenorientierung – es geht um Individuen und ihre Beziehungen zueinander, frei von vorgegebenen Rollen oder Positionen. Die Gruppendynamik konzentriert sich darauf, wie Menschen miteinander in Beziehung treten und Kooperationen bilden. In diesem gruppendynamischen Raum spielen drei Dimensionen eine Rolle: Macht, Zugehörigkeit und Intimität. Wenn Menschen sich in Gruppen begegnen, dann wird immer die Macht-Hierarchie ausgehandelt. Es wird geklärt, wer dazugehört und wer nicht, und Intimität wird ein Thema: Wer will wem nahe sein? Wer findet wen attraktiv? Zu wem fühlt man sich hingezogen? Diese drei Dimensionen sind in Gruppen immer präsent.
Und wie verhält es sich in Organisationen?
OG: Die drei Dimensionen der Austarierung von Beziehungen laufen auch innerhalb von Organisationen ab, nur werden sie da nicht explizit thematisiert. Die Kooperation und Interaktion werden primär durch Rollen und Positionen vorbestimmt. Es ist nicht nötig, persönliche Beziehungen zu klären, da ich weiss, welche Rolle die andere Person hat und wie ich mich darauf einstellen kann. Das ist der Vorteil und ein bisschen der Nachteil von Organisationen.
Man könnte also sagen, dass die Anziehungskraft zwischen Menschen in Gruppen oder Organisationen unterschiedlich wahrgenommen wird?
OG: Zwangsläufig. In einem Freundeskreis beispielsweise ist die Bildung eines Paares unproblematisch. In einer Organisation hingegen kann dies zu Problemen führen. Nach einer Definition von Milton Erickson beinhaltet Intimität letztlich auch Sexualität. Ein solch intensives sich aufeinander Einlassen gehört hochgradig in die Privatheit und kann durch Organisationen nicht mehr verarbeitet werden. Attraktivität und Anziehung spielen zwar eine Rolle, aber in einem organisationalen Kontext ist es riskant, dies auszunutzen oder zu instrumentalisieren. Flapsig gesagt konnte sich Schneewittchen deshalb auf keinen der Zwerge einlassen. Die Balance zwischen den sieben Zwergen hätte nicht mehr funktioniert. Deshalb verbieten viele Organisationen eine intime Verbindung zwischen Mitarbeitenden.
Dann wäre es für eine Organisation ein Fehler, die Anziehungskraft von Menschen verzwecken zu wollen?
OG: Wie gesagt, Attraktivität und Anziehungskraft spielen auch in Teams von Organisationen eine Rolle. Aber diese Dimension zu nutzen, steht der Organisation nicht zu. Ihre Aufgabe ist es, mit organisationalen Mitteln zu motivieren – durch Rationalität und finanzielle Anreize. Weil aber auch Vorgesetzte Menschen sind, ist es eine Gratwanderung zwischen Kultur und Natur, wobei Kultur für die kontrollierte, regelbasierte Welt und Organisationen steht. Erotik hingegen fokussiert auf Natürlichkeit, Loslassen, unkontrolliert sein. In einer Organisation ist kein Raum für unkontrolliertes Verhalten, also kein Raum für Erotik. Wenn zum Beispiel eine Vorgesetzte einen Mitarbeiter lobt, entsteht keine Intimitätsschuld, die beglichen werden muss. Deshalb bin ich skeptisch, wenn ich höre, dass ich mich in Organisationen ganz natürlich verhalten und mich hingeben soll.
Aber diese Vermischung kommt vor?
OG: Teilweise findet sie in Organisationen sogar systematisch statt. Als Beispiel: Anerkennung und Wertschätzung sind sehr individuelle, personenorientierte Begriffe. Anerkannt werden in meiner Persönlichkeit kann ich in meiner Familie oder in meiner Partnerschaft, aber dies in einer Organisation zu suchen, ist grenzwertig.
Ist es also problematisch, sich in die Arbeit oder die Organisation zu verlieben?
OG: Ja, Organisationen sind soziale Systeme, in denen sich alles, was geschieht, unter Rekurs auf seine Zweckmässigkeit rechtfertigen muss, und ihre Kommunikationsmedien sind Geld und Macht. Das unterscheidet sie von Familien und Freundeskreisen, und insofern kann die Organisation keine Liebe erwidern. Organisationen möchten zwar die Extrameile von ihren Mitarbeitenden bekommen, aber sie können es nicht begleichen. Das ist das Zynische bei den neuen Arbeitsformen. Viele Mitarbeitende finden es zunächst grossartig, dass ihnen die Organisation Kindergarten, Coiffeur, Tischtennisplatte und Töggelikasten zur Verfügung stellt. Man hat das Gefühl, adoptiert und als Mensch angenommen zu sein. Dies führt unweigerlich zu Enttäuschungen. Denn wenn es zu Kürzungen kommt, werden sie trotzdem entlassen. Dies zeigt, dass Organisationen nicht der richtige Ort für tiefgreifende persönliche Bindungen sind.
Dann müsste bei Mitarbeitenden das Bewusstsein dafür gefördert werden?
OG: Ja, Mitarbeitende sollten befähigt werden, sich bewusst zu entscheiden. Wenn ich mich sehr persönlich in die Arbeit einbringen und rund um die Uhr von überall her arbeiten möchte, ist das nichts Verwerfliches. Aber die Frage ist: Bin ich mir dessen bewusst? Kann ich den Laptop in der Nacht auch unbenutzt lassen, kann ich Nein sagen? Kann ich bewusst eine Grenze der Intimität ziehen und ist mir bewusst, dass die Organisation kein Freundeskreis ist?
Das ist besonders interessant im Kontext von Kirchen oder sozialen Einrichtungen, wo Menschen oft aus einem inneren Antrieb arbeiten.
OG: Normalerweise ist meine Mitgliedschaft in Organisationen freiwillig, d. h. ich kann rein- und auch wieder rausgehen. In einer Familie kann man das nicht. Organisationen, die eine «totale Inklusion» anstreben, wie Klöster, das katholische Priesteramt oder das Militär, gehen über das rein Rationale hinaus und erwarten ein höheres Engagement. Wenn nun die berufliche Rolle die gesamte persönliche Identität umfasst, kann dies zu Vermischungen, Missverständnissen und Risiken führen, insbesondere im Hinblick auf Grenzverletzungen in der Arbeit. Sobald sich erotische Gefühle mit beruflicher Leidenschaft vermischen, muss meine Professionalität von mir verlangen, eine strikte Grenze zu ziehen.
Das ist ein wichtiger Aspekt, auch für kirchliche Berufe. Gibt es Strategien, um in Organisationen eine Vermischung von privaten und professionellen Aspekten zu vermeiden?
OG: Je mehr wir auf direkte persönliche Kommunikation angewiesen sind und uns nicht mehr nur auf unsere Rollen verlassen können, desto wichtiger wird eine offene Kommunikation. Organisationen müssen institutionalisierte Räume für Reflexion und Diskussion schaffen, um zu besprechen, wie Entscheidungen getroffen werden und wie miteinander umgegangen wird. Es ist wichtig, regelmässig zu reflektieren, wie die Zusammenarbeit jenseits von Funktionsbeschrieben funktioniert und inwieweit sie verbessert werden kann. Dies hilft, eine gesunde Arbeitsumgebung zu fördern und sicherzustellen, dass professionelle und persönliche Grenzen gewahrt bleiben. Das kann in regelmässiger Supervision, regelmässigen Teamsitzungen passieren.
Prof. Dr. Olaf Geramanis ist Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz für angewandte Gruppendynamik und personenorientierte Beratung. Er ist Diplompädagoge, Coach/Supervisor und Trainer für Gruppendynamik.
olaf.geramanis@fhnw.ch, www.organisationsdynamik.ch
Pfarrpersonen bieten Projektionsfläche für Schwärmereien. Das kann harmlos, bisweilen unangenehm bis übergriffig erlebt werden. Insbesondere Pfarrerinnen können von solchen Grenzüberschreitungen erzählen. Aber auch Pfarrer sind davor nicht gefeit.
Von Melanie Muhmenthaler
Die Witwen beim Seniorennachmittag, die die Nähe des Pfarrers suchen und ihn gerne zu sich einladen. Der verträumte Blick eines Schülers im Unterricht mit der Pfarrerin. Die Gespräche beim Kirchenkaffee, dass die Pfarrerin nicht nur gut predigt, sondern auch gut aussieht. Die Essenseinladung des älteren Ehepaars an den Pfarrer mit dem Hinweis, dass gerade auch die ledige Tochter zu Besuch sei.
Pfarrpersonen sind in ihrem Alltag zahlreichen Projektionen, auch erotischer/sexueller Natur, ausgesetzt. Der Begriff «Kanzelschwalbe» bezeichnet spöttisch Gottesdienstbesucherinnen, die für den Pfarrer schwärmen. Und doch – oder gerade deswegen – scheint das Thema «erotische Projektion» ein Tabu zu sein.
Auch in mir regen sich Widerstände. Denn mit Erotik verbinde ich eigentlich Positives. Es ist die sinnliche Erfahrung, ein sich angezogen und hingezogen fühlen, es ist Begehren und die Freude an Menschen. Erotik passiert auf Augenhöhe. Und darum hat sie für mich bezogen auf die Arbeit der Pfarrperson in der Gemeinde nichts zu suchen, sobald Abhängigkeitsverhältnisse mit hineinspielen. Bei erotischer Projektion im Pfarralltag, bekomme ich darum ein beklemmendes Gefühl. Die Diskussion über den Lippenstift der Pfarrerin ist vermeintlich harmlos, für die Betroffenen ist sie aber unangenehm. Auch Annäherungsversuche bis Übergriffigkeiten erleben Pfarrpersonen: «Ich will ja nichts Erotisches von Ihnen. Ihr Mann darf von unseren Gesprächen wissen.» Pfarrerinnen aller Generationen können von solchen Grenzüberschreitungen erzählen. Dass dies auch Pfarrern passiert (siehe «Kanzelschwalben»), macht das Phänomen nicht weniger heikel.
Erotische Projektionen thematisieren
Wo ist es erotische Projektion, bei der die Pfarrperson in der Verantwortung steht und sensibel damit umgehen muss, und wo fängt die Übergriffigkeit an, vor der sie sich selbst abgrenzen darf und allenfalls von aussen geschützt werden muss? Wen kann sie dann ins Vertrauen ziehen?
In Supervision und Therapie gibt es klare Richtlinien: Erotische Beziehungen zwischen Therapeut:in und Klient:in sind verboten. Im Pfarramt ist es ebenso untersagt, der professionelle Umgang müsste vielleicht in Aus- und Weiterbildung stärker trainiert werden. Als Pfarrperson lebt man mit den Menschen («Totalrolle»). Die Gemeinde erlebt die Pfarrpersonen bis zu einem gewissen Grad «privat». Pfarrer:innen müssen sich darum besonders bewusst sein, dass sie Projektionsfläche bieten. Es geht bei Schwärmereien nicht in erster Linie um sie als Person, sondern um ihre Rolle, auf die Sehnsüchte projiziert werden, die in der Regel keine Erfüllung in der Realität suchen.
Gerade in Zeiten von Missbrauchsstudie und dem bewusst werden, dass Missbrauchsfälle auch in der reformierten Kirche stattgefunden haben und stattfinden, müssten neben der Aufarbeitung auch über das Thema erotische Projektion gesprochen und Präventionsarbeit geleistet werden. Nicht nur im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, sondern auch in der Arbeit mit Erwachsenen.
Erotik und Pfarramt – anders gedacht
Erotik im Wortsinn von «Eros» als sinnliche, begehrende Liebe, als Freude und Leidenschaft kann ich aus anderer Perspektive für das Pfarramt doch noch etwas abgewinnen. Eros ist die fast schon körperlich spürbare Freude an dem, was gelingt im Gottesdienst, im Unterricht, in der Seelsorge. Eros ist da, wo die Arbeit in einen «Flow» kommt und man sich wie elektrisiert fühlt. Eros ist Freude und Lust – nie bezogen auf Menschen, mit denen man in einem seelsorgerlich-fürsorglichen Verhältnis steht, sondern bezogen auf das, was hier gerade geschieht. Es ist die Lust an der Arbeit, am Geschehen, an der Begegnung mit den Menschen; «brannte nicht unser Herz» (Lk 24,32). Dieser Eros hat etwas Unverfügbares und könnte als Begegnung mit dem Heiligen gedeutet werden.
Melanie Muhmenthaler ist Pfarrerin und seit März 2024 Leiterin der Pfarrweiterbildung Bern (pwb).
melanie.muhmenthaler@refbejuso.ch
«Darf ich dich küssen?»
In der Stadt: Feierabend. Wir treffen uns in der Bar eines Fünf-Sterne-Hotels. Abgeschirmt von neugierigen Blicken, in einem Separee. Die Lichter sind gedimmt. Sie sitzt mir gegenüber. Ein Glas Bordeaux in der Hand. Durch ihre dunklen Haare, ihr dunkles Kleid fügt sie sich in ihre Umgebung ein. So, als wäre sie hier zu Hause. Und wahrscheinlich ist sie überall zu Hause. Oder nirgends.
Ihre Lippen sind scharlachrot. So scharlachrot wie das Sofa, auf dem wir sitzen. Mein Blick wandert zu ihren Lippen. Nicht zu ihren Augen. Es sind zu immer erst die Lippen. Sie lächelt. Wie Bordeaux, dein Mund.
Wir kennen uns schon lange. Wir treffen uns schon lange. Die Orte sind andere. Die Situationen sind andere. Die Regeln sind dieselben. Wir tauschen Geschichten aus. Unsere Gespräche, unsere Gedanken gehen ineinander über. Wir kommen uns nahe, wir bleiben uns fremd. Wir sind einander, was wir einander sein wollen. Heute sind wir einander Narde und Safran, Zitronengras und Zimt.
Sie schaut mich an. Ihr Bein berührt mein Bein. Ihre Augen auf meinen Lippen. Wir tänzeln entlang der Grenzen. Ihre Hand fährt über meinen Rücken. Meine Augen auf ihren Lippen. Du bist schön, meine Freundin, du bist schön. «Darf ich dich küssen?»
Ein Einverständnis, eine Zustimmung. Unsere Lippen berühren sich. Ihre Lippen Rosen. Tropfen von fliessender Myrrhe. Ihre Finger fahren durch meine Haare. Ich berühre sanft ihre Schultern. Alles ist eher sanft mit ihr. Ihre Lippen, ihre Augen, ihr Gesicht, ihr Gefühl. Sanft ist ihr Mund und alles an ihr: Begehren.
Ich frage sie, ob ich die Nacht mit ihr verbringen darf: Leg mich wie ein Ring an dein Herz, wie ein Ring an deinen Arm. Sie verneint. Sie müsse nach Hause. Zu Daniel, zu Ben, zu Selim – wie auch immer er gerade heisst. Ich küsse sie. Ein letztes Mal für heute. Ich spüre ihrer Wärme nach. Wie Feuer. Wie Flut. Dann gehen wir hinaus. Sie verschwindet in der Kühle der Nacht. Ich breche auf, in Strassen, auf Plätze, in die Stadt.
Jonah Klee schreibt in den nächsten vier Ausgaben des Magazins Bildungkirche unsere Kolumne. Klee hat die Geschäftsführung und Studienleitung im Atelier Sprache am Theologischen Zentrum in Braunschweig inne. In Berlin und Bern hat Jonah Klee evangelische Theologie studiert. Jonah Klee liebt Wortkunst und Poetry Slam – und ist damit auf Bühnen unterwegs. www.stadtpoetin.com
Hinter die Kulissen schauen
Ich bin Anfang der 1980er-Jahre in Bulgarien auf die Welt gekommen. Während meiner Kinder- und Jugendzeit haben mich politische und wirtschaftliche Unsicherheiten nach Halt suchen lassen. Mit 18 Jahren kam ich dann nach Deutschland, wo ich ein Politik- und Wirtschaftsstudium begann, später führte mich mein Weg in die Hotellerie. Ich bin verheiratet und habe eine dreijährige Tochter. Die Religion habe ich quasi mit der Muttermilch aufgesogen: Meine Grossmutter war ein aktives Mitglied bei der lokalen orthodoxen Kirche. Mein Vater war Teil einer protestantischen Untergrundgemeinde, dann als Wanderprediger unterwegs und ist nun in Bulgarien seit mehr als 30 Jahren Pastor. Seine Kirchgemeinde wird mehrheitlich von Roma besucht. Ich erinnere mich, dass er mich als Kind manchmal auf dem Mofa zur Bibellesegruppe mitnahm. Nach aussen wurde der Anlass aus Angst vor der sozialistischen Miliz als Geburtstagsfeier ausgegeben. Am Theologiestudium gefällt mir, dass ich alte Sprachen lernen kann. Für mich als Vater ist es eher schwierig, Familie und Studium unter einen Hut zu kriegen. Mit meiner Familiengeschichte beschäftigen mich zwei Themen in der Theologie speziell: Migration und Einsamkeit. Deswegen will ich als Pfarrer später für die Migrant:innen dasein, für Ausgeschlossene genauso wie für Familien. Ich möchte Leuten Mut spenden und einer herausgeforderten Welt das Licht Christi zurückgeben.
Foto: Raphael Ammann